Der laute Signalton eines Megaphons schallt über den großen, von Häusern umstellten und mit Bäumen bepflanzten Platz und mehrere hundert Schüler setzen sich in Bewegung. Sie besuchen alle das Gymnasium von Rey Bouba. Langsam Platz und in die Klassenräume. Das einzige, was bis zum Mittag kontinuierlich auf dem Platz bleibt, sind die Frauen, die ihre Maisbällchen oder ihren Tee auf dem Schulgelände an Schüler und Lehrer verkaufen. Der Ton des Megaphons kommt aus dem Lehrerzimmer, das aus 2 Holztischen und ein paar Stühlen besteht. Selbst das Büro des Vize-Präsidenten, dem Deutschlehrer Herrn Siddi, besteht nur aus einem Tisch und einem Stuhl. Allerdings sind das keine richtigen Schreibtische sondern bestenfalls einfachste Schreibunterlagen. Die Ausstattung der Unterrichtsräume ist noch viel schlechter. In einer Klasse befinden sich häufig mehr als hundert Schüler, die auf spartanischen Holzbänken mit angeschraubten Tischen in einem Raum Platz nehmen, der einerseits keine richtigen Fenster besitzt und andererseits an allen Ecken und Enden von Termiten zerfressen wird, mit anderen Worten sicherlich in unseren europäischen Gefilden für die Verwendung als Unterrichtsraum zu gebrauchen wäre. Dort versuchen die SchülerInnen, trotz der enormen Klassengröße, dem Unterricht zu folgen. Erschwert wird dieses Vorhaben auch noch dadurch, dass von den über einhundert SchülerInnen in einer Klasse gerade mal 2 oder 3 SchülerInnen ein Buch des jeweiligen Faches besitzen. Selbst der Lehrer steht ohne Unterrichtsmaterial vor der Klasse. Doch nicht nur ohne Unterrichtsmaterial, sondern z.T. auch ohne verwendbare Tafel, da diese zerlöchert oder einfach nicht mehr für Kreideschrift zu verwenden ist. So ist das Bearbeiten von Texten oder Aufgaben unmöglich oder äußerst zeitaufwendig. Lernen bedeutet hier, dass die Kinder nachsprechen und auswendig lernen. Ein eigenes, intellektuelles Erfassen und Durcharbeiten des Textes findet leider nicht statt.
Am Freitag findet immer der Markt in Rey Bouba statt. Dieses regelmäßige Ereignis dezimiert die Anzahl der Schüler jeweils am Freitag gravierend, weil es nach der Meinung von vielen Jugendlichen auf dem Markt sehr viel spannender ist als in der Schule. So kaufen oder verkaufen sie lieber, anstatt in der Schule etwas zu lernen.
Die ersten Eindrücke, die ich im Gymnasium von Rey Bouba gesammelt habe, sind erschreckend. Die Zustände, unter denen die Schüler lernen, sind mehr als nur schlecht. Nicht nur, dass es an Unterrichtsmaterial, Lehrern und häufig auch an Disziplin fehlt, nein. Es fehlt an allem. Die Lehrer haben schon seit Monaten kein Gehalt mehr erhalten und unterrichten trotz alledem weiter. Der Unterricht lässt sich ohne Material natürlich auch nicht richtig vorbereiten, weshalb häufig improvisiert werden muss. So fällt der Unterricht auch oft aus, weil der Lehrer erst gar nicht gekommen ist, oder in einer anderen Klasse gebraucht wird. Im Gymnasium wird eigentlich nur versucht, durchzuhalten, doch eine Besserung ist derzeit keineswegs in Sicht. Der derzeitige Englischlehrer des Gymnasiums z.B. hat eigentlich Spanisch studiert und würde dieses Fach auch gerne unterrichten, doch da es keinen Englischlehrer gibt, muss er dieses Fach aushilfsweise übernehmen. Alle Schüler, die hingegen Deutsch lernen, hatten mehrere Jahre gar keinen Lehrer und sind trotzdem in der Klasse aufgestiegen, was dafür sorgt, dass sie sich alle weit unter dem eigentlich geforderten Niveau befinden. Doch seit dem Sommer 2012 haben sie wieder einen Deutschlehrer, der vor seiner Anstellung in Rey Bouba gerade sein Studium abgeschlossen hat und seitdem ohne Lohn arbeiten muss. Dieser Deutschlehrer ist allerdings seit eineinhalb Wochen nicht mehr zur Arbeit gekommen, da seine Stiefmutter verstarb, und er zur Beerdigung nach Maroua reisen musste. Jedoch ist auch nach 1,5 Wochen nicht abzusehen, wann er wiederkommt, da er sich auch nicht bei der Schule meldet. Deshalb haben die Deutschschüler schon wieder keinen Deutschunterricht und können ihre Kenntnisse nicht verbessern.
Aus diesem Grund hat mich Herr Siddi gebeten, doch den Deutschunterricht in der Abschlussklasse, in der sich im Jahrgang 2012/2013 zehn SchülerInnen befinden zu übernehmen. Ich habe in der Woche vom 05.11.2012 bis zum 11.11.2012 schon 2 Deutschstunden unterrichtet, obwohl ich natürlich nicht dafür qualifiziert bin. Doch Not macht erfinderisch und, da der Unterricht sonst gar nicht stattfinden würde, ist meine Aushilfstätigkeit besser als nichts.
Meine bisherigen Deutschstunden in der Abschlussklasse drehten sich um das Thema „Fremde“, das gerade von den Schülern behandelt wird. Das passt gut zu meiner Situation, da ich in Kamerun ja eindeutig ein Fremder bin. Ich habe über meine eigene Situation nachgedacht und mich entschlossen, einen kurzen Text über meine Erfahrungen als Fremder zu schreiben, in dem ich auf meine Probleme eingehe, die ich bisher auf meiner Reise hatte. Diesen Text habe ich als USB-Manuskript Herrn Siddi übergeben, der ihn mir freundlicherweise ausgedruckt hat. Das Ausdrucken ist keine Selbstverständlichkeit wie bei uns in den Schulen, sondern eine Ausnahme; denn Papier und Farbe kosten Geld und beides hat die Schule nicht. Ich habe den Text mit Herrn Siddi besprochen und wir haben außerdem pädagogische Fragen eingearbeitet, die die Schüler nach dem Erfassen des Textes beantworten sollen. Erst dann konnte ich diesen Text den Schülern vorlegen, um ihn mit ihnen gemeinsam zu bearbeiten. Wir haben den Text zusammen gelesen und, um zu testen, ob sie ihn verstanden haben, die vorbereiteten Aufgaben und Fragestellungen dazu bearbeitet. So zum Beispiel Aufgaben zum Wortschatz, in denen die Schüler das Gegenteil eines Wortes aus dem Text finden oder Substantive bilden mussten. Diese Aufgaben haben die Schüler recht gut gemeistert, allerdings waren sie vom Niveau her nicht für eine Abschlussklasse geeignet, in der sie eigentlich sind. Doch dadurch, dass sie so lange keinen Deutschunterricht hatten, waren anspruchsvollere Aufgaben leider nicht zu machen. Anschließend habe ich mit ihnen das Lesen geübt, indem jeder Schüler und jede Schülerin einige Sätze vorlesen musste, und ich den Schülern denselben Text danach noch einmal komplett vorgelesen habe. Ihre Aussprache des Deutschen ist zwar mit recht starkem Akzent, aber wenn sich die Schüler konzentrieren, kann man sie verstehen. Sie bekamen von mir auch eine Hausaufgabe, und zwar einen Absatz des Textes ins Französische zu übersetzen.
Nach dieser Unterrichtsstunde habe ich mich mit Herrn Siddi zusammengesetzt, und er hat mich gebeten, die nächste Stunde auch zu übernehmen, da der Deutschlehrer noch nicht wieder da sei. Er hat mich allerdings weniger gefragt, ob ich die Stunde übernehme, als die Frage gestellt, was ich in der nächsten Stunde mit den Schülern machen werde. Ich habe aber dennoch eingewilligt, die nächste Unterrichtsstunde zu übernehmen.
In der zweiten Deutschstunde habe ich den Schülern, nach der Hausaufgabenkontrolle, die Aufgabe gegeben, in Kleingruppen von 3 Personen eine kurze Zusammenfassung des Textes in eigenen Worten zu verfassen. Dies geschah in Stillarbeit. Am Ende der Stunde musste jede Gruppe ihr Ergebnis vorlesen und anschließend für eine Korrektur durch Herrn Siddi abgeben. Die Qualität und die Länge der Texte waren sehr unterschiedlich. Während die eine Gruppe nach 30 Minuten Arbeitszeit nur 3 Sätze zustande bekam, hatte eine andere einen Text über 1,5 Seiten und das auch in eindeutig besserer Qualität vollbracht.
Dafür, dass die Schüler in diesem Schuljahr ihr Abitur machen sollen, ist ihr Deutsch allerdings trotzdem sehr schlecht. Es ist wirklich unverantwortlich seitens der staatlichen Verwaltung, dass die SchülerInnen mehrere Jahre komplett ohne Deutschlehrer verbringen mussten.
Für mich ist die Position als „Aushilfslehrer“ etwas sehr Spannendes. Es freut mich, den Schülern helfen zu können und auch eine Rückmeldung von ihnen darüber zu bekommen, wie sie den Unterricht und die Sprache an sich finden. Andererseits ist es aber auch interessant, auf der anderen Seite der Klasse zu stehen, da ich mein Abitur gerade erst vor ca. 6 Monaten bestanden habe.
Neben dem Unterricht, den ich selbst geleitet habe, wurde ich auch von anderen Deutschkursen gebeten, den Unterricht so oft wie möglich zu besuchen. Bei meinem Unterrichtsbesuch habe ich auch meine Gitarre mitgenommen, um mit den Schülern ein deutsches Lied zu lernen. Herr Siddi hat „Oh Tannenbaum“ vorgeschlagen und die mehr als einhundert Schüler haben begeistert mitgesungen. Sie haben mir auch „Bruder Jakob“ vorgesungen, ein Lied, das sie letztes Jahr gelernt haben, und sie wollen auch noch weitere Lieder und auch die deutschen Spiele mit mir üben, die ich kenne.
Ich hoffe, dass der Deutschlehrer bald wieder da ist, damit ich mit ihm zusammen weiter den Deutschunterricht gestalten kann, da die Schüler sich über jede Abwechslung freuen und dafür dankbar sind.